Sie setzen Prozessmanagement in Ihrem Unternehmen bereits professionell ein oder möchten dies zukünftig tun? Mit großer Wahrscheinlichkeit kommen Sie an der ein oder anderen Stelle an einen Punkt, an dem Sie feststellen, dass die praktische Ausführung des Öfteren vom festgelegten Prozess abweicht, oder es Ihnen schwer fällt, einen Ablauf genau zu beschreiben. Dann ist es an der Zeit darüber nachzudenken, den einzelnen Tätigkeiten im Prozess etwas weniger Beachtung zu schenken und sich auf Ergebnisse zu konzentrieren.

Qualitätssicherung im Fokus

Für viele Unternehmen gilt die DIN-EN-ISO9001:2015 als einer der wichtigsten Qualitätsstandards in Unternehmen. In dieser versteht sich ein Prozess als „ein Satz zusammenhängender oder sich gegenseitig beeinflussender Tätigkeiten, der Eingaben in Ergebnisse umwandelt“. Zudem verlangt der prozessorientierte Ansatz eine „Beschreibung der Abfolge und Wechselwirkungen der Prozesse“ sowie eine Bestimmung der „erforderlichen Eingaben und erwarteten Ergebnisse“.

In der Praxis hat es sich dabei bewährt, Prozesse grafisch darzustellen. Die beiden häufigsten standardisierten Darstellungsverfahren für Geschäftsprozesse sind

  • die (erweiterte) ereignisgesteuerte Prozesskette, kurz EPK bzw. eEPK
  • die Business Process Modeling and Notation (BPMN)

Neben den beiden Standardisierten Formen sehe ich in einigen Unternehmen auch eigene Notationen, die an diese Standards angelehnt sind und teilweise vom Standard abweichen. Auf die genauen Unterschiede und individuellen Vor- und Nachteile werde ich noch in einem anderen Artikel eingehen.

Allen Formen gemeinsam ist die Tatsache, dass sie eine Abfolge einzelner Tätigkeiten bzw. Arbeitsschritte darstellen, die ausgehend von einem Input (Objekt, Information etc.) einen Output zu erzeugen. Dabei sind die einzelnen Arbeitsschritte die Elemente, die in der Regel am meisten Aufmerksamkeit erhalten. Um die Reproduzierbarkeit und Transparenz weiter zu steigern und Fehler zu vermeiden, nimmt die Standardisierung im Laufe der Zeit erfahrungsgemäß zu. Anwender werden durch zusätzliche Vorlagen bei der Arbeit unterstützt. Wenn die Organisation weiter wächst, kommen weitere Regeln und Beschreibungen hinzu.

Vor- und Nachteile der Standardisierung

Diese Standardisierung führt zu festgelegten Regeln, Prozessen und Richtlinien. Das Ziel dabei ist es, Konsistenz, Effizienz und Qualität zu fördern. Bewährte Verfahren sollen dokumentiert und auf möglichst breiter Basis angewendet werden. Das erlaubt es, wiederholbare Abläufe einzuführen, Risiken zu minimieren und die Effizienz zu steigern. Somit ist Standardisierung zunächst einmal ein wirksames Instrument, um erfolgreich am Markt agieren zu können.

Allerdings lässt sich dieser Zugewinn von Effizienz nur bis zu einem Gewissen Grad realisieren. Ein Übermaß an Regulierung führt zu mangelnder Flexibilität bei Veränderungen und kann Innovationen hemmen. Ab einem bestimmten Punkt kann die Zufriedenheit Ihrer Kunden auch negativ betroffen sein, wenn Ihre Regeln und Richtlinien zu längeren Bearbeitungszeiten und abnehmender Flexibilität führen. Ebenso kann eine zu hohe Standardisierung sich negativ auf die Motivation Ihrer Mitarbeitenden auswirken, sobald die Selbstbestimmung eingeschränkt und eintönige oder nicht effektive Tätigkeiten überhand nehmen. Die Folge ist eine weiter abnehmende Effizienz.

Im Rahmen der Organisationsentwicklung ist es also ein wichtiges Anliegen, ein angemessenes Maß an Standardisierung einerseits und Flexibilität und Anpassungsfähigkeit andererseits zu erreichen.

Zusammenhang zwischen Regelungsgrad und Effizienz

Eine zugrundeliegende Theorie hierzu liefert das Substitutionsprinzip der Organisation von Erich Gutenberg. Gutenberg beschreibt in diesem Prinzip, dass „Bei zunehmender Variabilität von Vorgängen die generellen Regelungen, fallweisen Regelungen weichen“. Das bedeutet, dass bei wiederkehrenden Tätigkeiten die Effizienz gesteigert werden kann, wenn sie formalisiert werden. Bei sehr variablen Tätigkeiten und Abläufen – zum Beispiel wenn es viele Ausnahmen und Sonderfälle gibt – führt eine Formalisierung zum Rückgang der Effizienz.

Gutenberg empfiehlt in seinem Modell, generelle, formale Regelungen durch fallweise Regelungen zu ersetzen, bis ein Optimum erreicht ist.

Das Substitutionsprinzip von Gutenberg besagt, dass generelle Regelungen durch fallweise Regelungen ersetzt werden können, um die Effizienz bei wenig gleichartigen Tätigkeiten zu optimieren. Es gilt das Optimum zu finden, das sich zwischen Über-Organisation und Unter-Organisation befindet.

Grafische Darstellung des Substitutionsprinzips

Lassen Sie sich also nicht in die Irre führen, wenn Sie Ihre Prozesse beschreiben. Wenn Sie sich zu sehr auf das Festlegen einzelner Tätigkeiten für alle möglichen Szenarien fokussieren, dann wird nicht nur Ihre Darstellung unübersichtlich. Es besteht auch die Gefahr, dass Sie das oben beschriebene Gleichgewicht verlassen und in den Bereich der Überorganisation gelangen. In diesem Fall wäre es also sinnvoll, mehr auf fallweise Regelungen setzen. Das Bedeutet, dass Entscheidungen nicht von vornherein im Prozess festgelegt sind, sondern für einen Einzelfall definiert werden und auch nur für diesen gültig sind.

Formalisierung reduzieren und Qualität beibehalten

Sollten Sie das Gefühl haben, dass ihr Geschäftsvorgang zu überorganisiert ist, treten Sie einen Schritt zurück. Fragen Sie sich, ob eine Formalisierung Ihnen wirklich einen Mehrwert bringt. Bei Bedarf reduzieren den Grad formeller Regelung und nehmen eine gewisse Unschärfe in Kauf. Geben Sie also nicht im Detail vor, was genau wann in welcher Form zu tun ist. Dabei müssen Sie darauf achten, dass dies nicht zu Qualitätseinbußen oder zu Ineffizienz durch Unterorganisation führt. Eine gute Lösung sind Methodiken oder Frameworks.

Methodik beschreibt eine Sammlung an Regeln, Vorgehensweisen und Tools und beschreibt deren systematische Anwendung. Im Gegensatz zu einem Prozess stehen bei Methodiken und Frameworks nicht die Tätigkeiten im Vordergrund, sondern einzelne Phasen. Diese besitzen einen idealtypischen Ablauf, können aber auch mehrfach durchlaufen werden. Wenn Sie sich also von einem Prozess hin zu einem Framework bewegen, dann machen Sie weniger Vorgaben, welche Schritte in welcher Reihenfolge abzuarbeiten sind. Sie erhöhen die Flughöhe und geben den handelnden Personen nur wichtige Regeln, Handlungsspielräume und geeignete Techniken (Tools) an die Hand, die es dann fallabhängig anzuwenden gilt.

Diese Varianten sind also die bevorzugte Wahl für Geschäftsvorgänge, die eine Einzigartigkeit oder eine hohe Varianz aufweisen – zum Beispiel Projektmanagement.

Die Abgrenzung zwischen Frameworks und Methodik ist aus meiner Sicht etwas akademisch. In der Theorie sind Frameworks noch abstrakter gefasst und sind noch weniger definiert. Somit erlauben Frameworks die Anwendung unterschiedlicher Methoden und Tools. Für die praktische Anwendung ist dies erstmal weniger von Bedeutung. Die Aufgabe ist es, das richtige Maß an Regelung und Struktur für Ihr Unternehmen zu finden. Wenn Sie dieses Optimum erreicht haben, dann spielt es in der Regel keine Rolle, ob Sie damit eine Methodik oder ein Framework etabliert haben.

Beobachtung und Anpassung sind maßgeblich für die Balance

Es gibt leider keine Faustformel, um festzustellen, ob Sie mit Ihren Prozessen, Methodiken, Anweisungen und Frameworks gerade über- oder unterorganisiert sind. Das bedeutet, Sie müssen sich Prozesse heraussuchen, bei denen Sie Verbesserungspotential erwarten. Machen Sie sich immer bewusst, welches Ziel (Output) Sie mit dem Prozess verfolgen und reduzieren bzw. erhöhen sie gezielt das Maß der Formalisierung. Verwenden Sie eine messbare Größe, um zu beobachten, ob Ihre Maßnahmen Wirkung zeigen. Sinnvolle Messgrößen sind zum Beispiel Produktivität (Output/Input, z.B. Erledigte Vorgänge je Arbeitsstunde), die Durchlaufzeit bzw. Zykluszeit oder die Anzahl an ungeplanten Rückfragen während des Prozesses.

Bedenken Sie auch, dass der für Sie angemessene Grad an Formalisierung sich mit der Zeit verändern kann. Startups, die mit einem kleinen Team starten, werden zu Beginn auch ohne großes Regelwerk zurechtkommen. Wenn das Unternehmen dann wächst, steigt der Bedarf an Standardisierung. Szenarien, in denen oft zu Beginn eine Überformalisierung herrscht, sind Integrationen nach Unternehmenskäufen und Ausgründungen, z.B. aus Intrapreneur Programmen. Insbesondere wenn es sich um einen hoch diversifizierten Geschäftsbereich handelt, sollte sehr genau geprüft werden, ob die Prozesse (insbes. Risikomanagement, Reporting etc.) des „Größeren“ dem neuen, in der Regel wesentlich kleinerem Mitglied der Unternehmensgruppe angemessen sind. Aus meiner Erfahrung ist der Weg von der Überorganisation zum Optimum häufig mit größeren Herausforderungen verbunden.

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Published On: 5. Juli 2023 / Categories: Organisation, Prozessmanagement /